Die Krebsin und der Stier

Es war ein Mal eine Krebsin, die hatte ihr Quartier in einem Fluß, nahe einer Weide. Die Krebsin war sehr intelligent und das bekam sie auch ständig zu spüren, denn die Krebse und Krebsinnen ihrer Nachbarschaft und alle Krebstiere, die sie kennen gelernt hatte, waren neidisch oder argwöhnisch, ja sie stellten ihr sogar nach und verfolgten sie ständig, mit ihren Blicken. Die Krebse mit denen sie kommunizierte, waren ihr weit unterlegen und auf der Hut wenn sie kam. Alles hatte sie schon versucht. Sie gab sich freundlich, dann mit List, dann tat sie so als hätte sie keine Ahnung, oder sie begann ein Lied zu summen, oder sie bewegte sich zum Rhythmus der Wellen und Weiden, aber nur ganz wenige und nur die Krebstiere, die sie wirklich mochte, taten dann, ein wenig überheblich, sehr besorgt um sie.

Eines Tages beschloss sie deswegen, den Fluß zu verlassen und sich auf die Suche zu machen, nach einem Ort wo es mehr Krebstiere gab, bei denen sie wirklich verstanden und vielleicht sogar unterlegen sein würde – wer weiß?

Sie lies sich zunächst ein wenig flußabwärts treiben bis zu einer Biegung, an welcher der Fluß ein schmales Rinnsal ableitete. Diesem folgte sie und fand sich plötzlich und nach gar nicht all zu großem Aufwand in einem Trog wieder, in welchen das Wasser geleitet wurde.

Der Trog diente dem Stier der Weide als Tränke, aber das wusste die Krebsin nicht und da ihr der Platz mit den steilen Wänden gefiel, wollte sie zunächst ein wenig bleiben.

An den Wänden fand sie Algen, welche sie mit ihren Scheren vorsichtig abzupfte und in ihren Mund schob. Diese schmeckten Delikat.

Auf einmal tauchte etwas ins Wasser und verursachte ein schlürfendes, groteskes Geräusch. Die Krebsin schwamm zur Oberfläche und bemerkte einen großen Schatten. Es war der Stier, der zunächst mit oberflächenfeuchter Anschlaglippe am Wasser schnupperte und dann erst trank. Aber sie sah, dass auf dem Schatten ein anderes Krebstier mit einer riesigen, schönen Schere saß. Sie wollte sofort einen Kontakt herstellen und winkte mit den Scheren, und es kam sogar ein Winken zurück. Also schwamm sie um den Schatten herum, welcher das Geräusch verursachte und wollte einen Aufstieg, zu dem Krebstier entdecken. Dort blickte sie erstaunt auf ein weiteres Krebstier, mit einer riesigen schönen Schere. Nun musste sie einfach hinauf. Sie zwickte sich mit den Scheren in das Halsfell des Stiers und arbeitete sich langsam nach oben. Dabei beeilte sie sich enorm, da sie befürchten musste, dass die Krebstiere verschwinden würden, wenn man die Krebsin nicht mehr sah.

Als sie am Nacken des Stiers angekommen war, brauchte sie sich nicht mehr so sehr festklammern, und lief auf ihren acht Beinen den Nacken hinauf, zum Kopf des Stieres. Sie stellte fest, das die beiden Krebstiere noch dort waren und legte sofort los, mit beiden Scheren eine gekonnte Begrüßung zu winken.

Die beiden riesigen schönen Scheren blieben ganz ruhig, nur jeweils zwei kleinere, etwas rundere Scheren bewegten sich und gaben eine Antwort zurück. Die Krebsin freute sich darüber so sehr, dass sie beinahe heruntergerutscht wäre. Sie überlegte, wie sie nun vorgehen sollte, damit die Krebstiere erkennen würden, dass sie sich freut. Da lief sie zunächst zu dem einen hin und klapperte ein: Hallo, wie geht es. Ich bin eine Krebsin - und wer bist du? Sie dachte sofort, das diese  Frage beantwortet werden müsste, weil man sich unter Krebstieren schließlich versteht. Ihr Gegenüber hielt die eine Schere weiter bedrohlich in die Höhe gestreckt und nur die andere winkte etwas verspielt. Sie nahm nun an, es sei eine weitere  Krebsin, die deswegen so vergnügt wackelte und dachte sich, wenn sie recht habe müsse das andere Tier genauso antworten. Deswegen ging sie hin und klapperte und winkte wieder: Hallo, wie geht es. Ich bin eine Krebsin und wer bist du? Auch dieses Tier antwortete genauso verspielt und hielt eine Schere hoch, nur eben die andere. Ganz bestimmt waren es zwei Krebsinnen, weil sie sonst nicht bedrohlich die Scheren erhoben hielten, sondern sich aufgemacht hätten, die Krebsin zu betasten.

Aber das sie die Schere so schön oben halten konnten, lies darauf schließen, dass sie sehr stark sein mussten. Nun wollte die Krebsin nicht nachstehen und hielt ebenfalls eine Schere in die Luft und winkte mit der anderen. Es entwickelte sich darauf sofort ein leidenschaftliches Gespräch, in welchem die Krebsin eine sehr müde Schere bekam und sich deswegen nochmals dem anderen Krebstier zuwandte. Auch hier hielt sie die Schere hoch, wie ihr Gegenüber nur diesmal die andere.

Ein wenig hatte sie schon Mühe, dem Gespräch zu folgen, denn es war eine Menge Interpretationsarbeit in dem Dialog. Bald dachte sie daran, dass die anderen Krebse aus dem Fluß dies sehen müssten. - Endlich hatte sie intellektuelle Krebse gefunden, welche ihr allem Anschein nach sogar überlegen waren. Das müssten die anderen eigentlich anerkennen. Sie fragte also ganz freundlich, ob die beiden Krebstiere mit zum Fluß kommen wollen und dort den anderen Krebstieren einen Besuch abstatten möchten. Man winkte wieder freundlich zurück.

Natürlich waren es die schwarzen Ohren des Stiers, welcher immer mal wieder damit wackelte, um die Mücken zu verscheuchen. Und als die Krebsin plötzlich dem einen Krebs die Schere gab, indem sie den Stier in das Ohr kniff, da brüllte dieser laut auf und rannte über die Weide hin zum Fluß. Die Krebsin hatte große Mühe sich festzuklammern. Der Wind pfiff ihr zwischen den Augen hindurch.

Als der Stier unvermittelt vor dem Fluß abbremste und stehen blieb, platschte die Krebsin auf. Sie war glücklicherweise unverletzt und schaute zuerst verdutzt, dann begeistert aus dem Wasser heraus. Sie war genau dort angekommen, wo sie gestartet war. An ihrem früheren Zuhause im Fluss. Sie winkte den beiden vermeintlichen Krebstieren zu und ließ sich von den anderen Krebsen des Flusses feiern. Endlich glaubte man ihr, dass es intelligentere Krebse gab, die sofort handelten, wenn sie etwas begriffen hatten und denen man einfach nichts vormachen kann.

Damit war die Gemeinschaft der Krebse wieder hergestellt und man lebte friedlich zusammen.

Steffen Kaphahn

Copyright Februar 2001