Die Welt der Dichtung (Deutschland 1943)

17.11.13

Die genaue Untersuchung der Frage, welcher Stoff als Inhalt eines Films das Grundverhältnis umschließen kann, würde in die letzten Einzelheiten der Stofffindung und Milieuauswahl führen. Durchblättert man das große Buch der Dichtung, so findet man, dass insbesondere beim Drama bis auf Lessings Tage die Welt der Könige und der Fürsten die Welt der Dichtung ist, eine Welt von Menschen also, welche in außergewöhnlichen Verhältnissen leben und außergewöhnliche Verantwortung tragen. Der Bürger trat schon seit der Antike nur in der Komödie auf. Das wurde für das deutsche Drama seit Lessings „Miss Sara Sampson“ anders. Es war jedoch nicht leicht, in einer bürgerlichen Welt einen großen dramatischen Konflikt anzusiedeln. Auch Lessing konnte es nur, indem er zum Beispiel in der „Emilie Galotti“ der Welt des Souveräns das strengste Patriziertum eines deutschen Bürgerhauses gegenüberstellte. Wie Lessing, so konnte auch Schiller in seiner „Kabale und Liebe“ nicht auf den Gegensatz zwischen Hof und Bürgertum verzichten. Der Naturalismus kam dem Alltag näher und entfernte sich weiter von der Welt der Fürsten und der hohen Herren. Das gelang ihm aber nur dadurch, dass er die Schilderung der Lebensverhältnisse bis zur Abgeschmacktheit interessant machte und echte Konflikte durch Aufzeichnung der Nachtseiten des Lebens ersetzte. Dort stehen noch heute der sogenannte sozialistische amerikanische Film und der französische Film.

Der Weg zur großen Filmdichtung kann nur von Milieus oder besser gesagt, von Welten ausgehen, in denen Menschen leben, die außergewöhnliche Verantwortung zu tragen haben. Sie allein können in poetische Grundverhältnisse gestellt werden, die genügend Antriebsspannungen für eine epische oder dramatische Handlung haben.

Solche Charaktere sollten nicht schwer zu finden sein, denn gerade heute muß manch einer in der deutschen Gemeinschaft königliche Verantwortung tragen.

So wird die Filmdichtung eines Tages aus neuen Grundverhältnissen Fabeln für große Stoffe entwickeln können. Der Unterhaltungsfilm mag dann getrost auf den ausgetretenen Wegen überlieferter Grundverhältnisse und Stoffkreise wandeln.

Hat der Film wie alle Kunst der Gegenwart aus innerster Kraft unnachgiebig um den Gehalt seiner Aussage zu ringen, hat er aber nur in wenigen Fällen neue Fragen aufgeworfen, so ist es ihm doch gelungen, immer mehr der ihm gemäßen Ausdrucksmittel zu finden und erfolgreich anzuwenden. Das ist besonders in dem letzten Jahrzehnt und vor allem seit dem Beginn dieses Krieges geschehen. Wie bei dem Aufspüren neuen  Gehalts sind auch hier Dokumentarfilm und Kriegswochenschau die Anreger gewesen.

Es war bereits davon die Rede, dass sich in den letzten Jahren die Auffassung von der epischen Natur des Films immer mehr durchgesetzt hat. Nicht nur theoretische Erkenntnis, sondern auch die Schule der Erfahrung hat der Anerkennung dieser These den Boden geebnet.

Die Erfahrung ist nach wie vor eine wichtige Erkenntnisquelle für die Filmästhetik. Hans Schweikart hat von seinem Standpunkt als Filmgestalter durchaus recht, wenn er in einer Diskussion über seinen Film „Das Fräulein von Barnhelm“ betont, dass die Filmkunst eine filmische Kunst sei, und dass jeder Film sein Formgesetz nur in sich selbst finde. Die Geschichte der deutschen Poetik hat jedoch bewiesen, dass auch die ästhetische Forschung die Schritte der Dichtung zu beflügeln vermag. Ein Beispiel für viel mag hier angeführt werden. Die theoretische Arbeit eines deutschen Ästhetikers, der zugleich ein Dichter war, der Prosodie des Karl Phillip Moritz, haben wir die endgültige Gestalt der Goethischen „Iphigenie“ in Versen zu verdanken. Goethe selbst bekennt in seiner „Italienischen Reise“ unter dem 10. Januar 1787:

„Warum ich die Prosa seit mehreren Jahren bei meinen Arbeiten vorzog, daran war doch eigentlich schuld, dass unsere Prosodie in der größten Unsicherheit schwebt, wie denn meine einsichtigen, gelehrten, mitarbeitenden Freunde die Entscheidung mancher Fragen dem Gefühl, dem Geschmack anheim gaben, wodurch man denn doch aller Richtschnur ermangelte.“

Wenn Goethe seine schöpferische Empfindung  durch die kritischen Erkenntnisse eines Ästhetikers nachprüfte, so ist das wohl ein Beweis für die Fruchtbarkeit ästhetischer Forschung, der nicht lebendiger und darum nicht schlagender erbracht werden könnte. Die Erfahrung soll keineswegs ungeschätzt werden, besonders nicht bei einer so jungen und traditionslosen Kunst, wie es die Filmkunst ist. Doch gibt es neben ihr noch andere Erkenntnisquellen für die filmischen Gesetze. Und darum ist in der eben angeführten Äußerung  Hans Schweikarts das einschränkende Adverb „nur“ falsch.

Zur Erschließung der Gesetze des Films besitzen wir noch die allgemeine Ästhetik und die Poetik. Vor allem das innerhalb der Poetik am besten durchdachte System der Dramaturgie wird immer wieder gern – und nicht zuletzt von den Filmgestaltern selbst – zur Begründung vorgefasster Meinungen oder zur Behauptung eigener Arbeiten herangezogen.

Dabei hält man sich leider nicht vor Augen, dass die Dramaturgie wohl für das Drama, nicht aber für das Epos  und somit auch nicht für die Filmkunst Gültigkeit haben kann. Gewiss kann die Dramaturgie, solange es an brauchbaren filmpoetischen Begriffen fehlt, einstweilen die Vokabeln liefern, mit denen man sich theoretisch über den Film verständigt. Das ist aber nur statthaft, wenn man beachtet, dass dramaturgische Begriffe, wie etwa die Exposition, Konflikt, erregendes und retardierendes Moment, bei ihrer Verwendung in der Filmästhetik einen anderen Inhalt haben, der sich einmal ausnahmsweise mit dem dramaturgischen decken kann, der aber nicht notwendig mit ihm kongruent sein muss.

Der Begriff der Handlung, den wir ja sowohl in der Kunstlehre des Epos als auch in der Dramaturgie verwenden, bedeutet in beiden etwas anderes. Epische Handlung ist nicht dasselbe wie dramatische Handlung. Beide entspringen zwar derselben begrifflichen Kategorie, im Bereich der einen oder anderen Kunstgattung aber verändert der Handlungsbegriff seinen Inhalt. Jeder Filmschöpfer, der bereits einmal ein Drama verfilmt hat, weiß warum. Die Exposition des Dramas, ja oft nur einige kurze Bemerkungen des Dialogs, die als dramaturgische Voraussetzung das vor der gegenwärtigen dramatischen Handlung liegende vergangene  Geschehen erklären, müssen für den Film zur Haupthandlung oder doch zu einem Teil derselben werden. Das bekannteste Beispiel ist Schweikarts Versuch, Lessings „Minna von Barnhelm“ zu verfilmen. Die Autoren mussten auch hier eine dramatische Handlung in eine epische Handlung übersetzen und haben vielleicht errst bei der Arbeit festgestellt, dass das zweierlei ist. So mussten sie das, was Lessing in wenigen Sätzen als Vorgeschichte gibt, zur Handlung ihres Filmbuches machen. Dadurch wurde aus einem Charakterlustspiel ein großes Historienbild.

Dieser Fehler wird häufig gemacht. Er fällt nur nicht immer so auf, weil es sich in den meisten Fällen der Verfilmung vom Theaterstücken um dramatische Eintagsfliegen handelt, welche nur die wenigsten kennen. Man kann leider schon den paradoxen Satz aufstellen, dass kein Theaterstück so schlecht sein kann, als dass es der Film nicht für sich gewönne. Stammt das Stück aber gar von einem ausländischen Autor, dann stürzen sich die Filmdramaturgen erst recht darauf. Nur eine Bedingung pflegt man an das Stück zu stellen. Es muß bereits an irgendeinem Theater gespielt worden sein, ob mit oder ohne Erfolg ist gleich. Gehen Autor und Dramaturg dann aber an die Arbeit der „Übersetzung“, so entdecken sie sehr oft ganz plötzlich, dass sich die dramatische Handlung gar nicht verfilmen lässt. Dann wird das Stück umgedichtet, indem man es an Haupt und Gliedern amputiert, mit neuen Einfällen spickt und es so für den Magen des Filmpublikums genießbar zu machen versucht. Und am Ende kommt eine langweilige, konstruierte Filmgeschichte zustande, bei deren Lektüre man sich verzweifelt dragt, warum denn in aller Welt für etwas, was ein Anfänger hätte besser ersinnen können, soviel Arbeitskraft, Zeit und Geld verschwendet werden musste! Ein wenig theoretische Überlegung und die Erkenntnis, dass eine dramatische Handlung eben etwas anderes ist, eine epische oder eine Filmhandlung, können die Produktion vor Zeit- und Geldvergeudung und das Publikum vor schlechten Filmen bewahren.

Neben der Dramaturgie, deren Forschungsergebnisse mit Vorsicht für die Entwicklung filmischer Gesetze angewandt werden dürfen, wäre die wichtigste Erkenntnisquelle allerdings eine Filmpoetik. Doch leider gibt es diese Disziplin noch nicht.. Dem Film fehlt eben in Werk und Lehre die Tradition. Wie es ihm an der Überlieferung großer Werke gebricht, so mangeln ihm auch die theoretische Bewährung des Geleisteten und die theoretische Benennung des zu Leistenden. Es gibt eben, kurz gesagt, keine systematische Film-Literaturwissenschaft oder Filmwissenschaft im Sinne einer Literaturwissenschaft. Es gibt weder eine Film-Literaturgeschichte, die vor allem eine Geschichte des Filmbuchs (des Filmdrehbuchs) zu sein hätte, noch eine Filmpoetik. Was wir an Filmdramaturgien und an Einzeluntersuchungen besitzen, fußt, wie der Name schon sagt, auf der Bühnendramaturgie und ist daher weder methodisch noch kritisch unabhängig.

Wird es erst einmal eine exakte Filmwissenschaft geben, so wird niemand  mehr verstehen können, dass man einmal ohne die theoretische Vorarbeit dieser Disziplin gearbeitet hat. Es hat sich auch immer gelohnt, nach einem Plan zu wirken. Der Architekt baut ja sein Haus auch nicht nach Augenmaß. Niemals ist wahres künstlerisches Schöpfertum durch Planen und Bedenken gehemmt worden.

Drei Begriffe sind wesentlich für eine künftige Filmpoetik. Die in ihnen ruhenden Kräfte sind bereits bei der Gestaltung bedeutender Filmwerke fruchtbar geworden. Es sind dies der Goethische Begriff der inneren Form, der Lessingsche Begriff von der Wahrscheinlichkeit der Handlung und der neue filmpoetische Begriff von der filmischen Wirklichkeit.

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